Matthias Jung


 

FeedWind

Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Jahrestag.
Predigt am Totensonntag 2002

"Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden" (Lukas 20,38)

 

Lieber Heinz,

ich sitze hier an meinem Schreibtisch, vor mir eine brennende Kerze und ein leeres Blatt Papier. Und ich denke an dich.

Morgen ist es genau ein Jahr her, dass du von mir gegangen bist. 17. Oktober. Dieses Datum hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Der Anruf aus dem Krankenhaus. Nach allem Hoffen und Bangen. Wir wussten ja, wie krank du warst. Und doch haben wir gehofft bis zum Schluss. Vergeblich. Fünf Tage später haben wir dich beerdigt. Furchtbar war das. Ein Jahr ist das her. Ein Jahr ohne dich, ein Jahr voller Traurigkeit und Einsamkeit.

Die Tage bis zur Beerdigung habe ich kaum etwas wahrgenommen, ich kam mir vor wie im Film. Aber danach brach die Wahrheit über mich herein. Überall habe ich dich gesehen und gehört, aber du warst nicht da. Immer wieder dachte, jetzt kommst du gleich durch die Tür, aber dann kam der Schmerz. 

Meine - deine! - Kinder versuchten, mich zu trösten und abzulenken. Aber sie konnten es nicht. Natürlich nicht. Sie hatten genug mit ihrer eigenen Trauer zu kämpfen und du bist für mich sowieso nicht zu ersetzen.

Am Anfang bin ich jeden Tag zum Friedhof gelaufen. Habe dort mit dir gesprochen. Dann habe ich es mir angewöhnt, jeden Abend im Bett mit dir zu sprechen, habe überlegt, was der Tag mir so gebracht hat. Zunächst war alles voller Schmerz. Aber dann kamen ab und zu auch Kleinigkeiten, die schön waren. Der wunderschöne Sonnenuntergang. Ein Telephongespräch mit einer Bekannten. Ein Nachmittag mit den Enkeln im Zoo.

Weihnachten war schrecklich. Ich habe es nicht fertig gebracht, ohne dich in die Kirche zu gehen. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren war ich Heilig Abend nicht im Gottesdienst. Es ging nicht. Unser Sohn hat mich besucht mit seiner Familie. Es war sehr traurig. Nur die beiden Enkel waren ein Lichtblick. Und das einzige Weihnachtsgeschenk, was mich unglaublich gefreut hat, war der Satz von unserer Tochter am Telephon: Mama, ich bin endlich schwanger. Da wusste ich nicht, ob ich vor Freude oder vor Schmerz weinen sollte.

Im Frühjahr, als die Tage länger und die Nächte kürzer wurden, spürte ich, wie der Druck auf meiner Seele ein Stück nachließ. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass alle Traurigkeit wie eine Decke über mir lag. 

Spontan holte ich an einem Nachmittag Plastiksäcke und packte alle deinen Hosen, Hemden und Jacken ein und brachte sie zur Diakonie. 

Deine Angelausrüstung schenkte ich dem jungen Klaus, der mit dir früher schon mal zum Angeln ging. Er konnte es kaum glauben, aber hat sich so gefreut. Ich denke, bei ihm sind die Sachen in guten Händen.

Dann erschrak ich sehr, als ich eines Abends im Fernsehen einen lustigen Film sah und mich plötzlich dabei ertappte, wie ich laut und herzhaft lachte. Ich dachte erst, wie kannst du so lachen, wo Heinz doch nicht mehr da ist?! Aber dann fielen mir die vielen Komödien ein, die wir beide zusammen geschaut und immer soviel Spaß hatten. Und ich dachte, Heinz möchte bestimmt, dass ich auch mal wieder richtig laut lache. Der würde sagen: du kannst nicht ewig Trübsal blasen. Und dann war es auch gut.

Zu unserem Hochzeitstag im Mai schickte mir meine Schwester eine Karte mit einem Spruch von Dietrich Bonhoeffer:

"Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude."

Das hat mir gut gefallen. Lange saß ich auf der Terrasse in der Sonne, die Karte in der Hand und sinnierte diesem Spruch nach. Ich spürte, das dieser Satz wahr ist. Anfangs war der Trennungsschmerz unerträglich, aber nach und nach lässt er nach. Die Erinnerung macht es. Nicht den Gedanken und Gefühlen ausweichen, sie zulassen. Ich dachte, ja, jetzt bist du ein halbes Jahr tot. Und ich kann ganz allmählich an dich denken mit Freude – ohne gleich den Schmerz mitzuempfinden zu müssen. Erst war ich entsetzt, dachte, wirst du mir jetzt unwichtiger?! Aber dann spürte ich, dass es die Dankbarkeit ist, die mir wichtiger wird als der Schmerz.

Im Juni ging ich erstmals seit der Beerdigung wieder in die Kirche. Frau Karlstadt von nebenan hat mich gefragt, ob ich nicht mitkommen will, es wäre Gemeindefest. Und es war ein fröhlicher Gottesdienst mit den Kindergartenkindern, viele schöne Aktionen. Eine Frau fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mal zum Frauentreff zu kommen. Einmal im Monat würden sie sich jeden Mittwoch zum Frühstücken und zu einem Thema treffen. Und da wären auch viele, die auch schon ihren Mann verloren hätten. Sie hat das so herzlich erzählt, dass ich richtig neugierig wurde und bin dann einmal hingegangen. Es war wirklich schön, eine gute Gemeinschaft. Und seitdem gehe ich da immer hin.

Anfang August kam unser viertes Enkelkind zur Welt. Das erste von unserer Tochter. Du hättest dich so gefreut. Es war so ein schöner Moment, Lisa im Arm zu haben. Ich dachte, sie hat etwas von deinen Gesichtszügen. Aber vielleicht wollte ich auch nur etwas von dir in ihr wiederfinden. an dem Tag im Krankenhaus habe ich begriffen, das Leben geht weiter, das war nicht so ein tröstend gemeinter Satz, sondern ich merkte dass dieser Satz wirklich stimmt, aber das wir auch Zeit brauchen, ihn zu begreifen. Wir kommen und gehen, das ist nun mal so.

Neulich fragte mein unser zweitjüngster Enkel: Krieg ich bald einen neuen Opa? Ich musste schmunzeln. Mit vier Jahren sieht die Welt noch so einfach aus. Ich habe ihm gesagt, nein, der Opa lebt jetzt im Himmel und schaut zu uns herunter, es gibt keinen neuen Opa. Aber ich fing doch an nachzudenken: ein neuer Mann – denkbar nach dir, Heinz? Vor einem Jahr hätte ich den Gedanken überhaupt nicht denken können. Und auch heute kann ich es mir nicht recht vorstellen. Aber ich kann es auch nicht mehr ausschließen. Ich merke, wie der tiefe Schmerz immer mehr nachlässt. Irgendwo wirst du immer mein Heinz bleiben und was ich mit dir erlebt habe, das ist einmalig. Aber ich spüre: das Leben geht weiter und es kann mir noch manch Gutes widerfahren. Vielleicht auch eine neue Liebe. 

Letzten Sonntag sagte der Pfarrer im Gottesdienst: Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Jesus hat uns vom Tod erlöst, dann können wir uns nicht für immer in der Trauer verlieren. Er ruft uns heraus zum Leben. Ich ertappte mich, wie ich in der Kirche saß und versonnen nickte.

Lieber Heinz, ich will jetzt schließen. Da habe ich vorhin geschrieben: Es war ein Jahr voller Traurigkeit und Einsamkeit. Und das stimmt. Aber je länger das Jahr dauerte, desto mehr spürte ich so etwas wie Hoffnung, dass das Leben doch noch etwas für mich bereit hält. Ich kann nicht sagen, dass ich mich auf das nächste Jahr ohne dich freue, aber ich spüre doch, dass ich in mir wieder immer mehr Lust zum Leben verspüre. Ich bin sicher, an dem Ort, an dem du jetzt bei Gott bist, hast du Verständnis dafür.

Amen.

 

Anmerkung: In der Predigt sind Gedanken aus dem Buch "Wenn ein Mensch gestorben ist - wie gehen wir mit den Toten um?" von Daniela Tausch-Flammer und Lis Bickel verabreitet (S. 197-204).