Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Klagen.
Predigt am 4. Februar 2001

 

Alles hat seine Zeit. Weinen seine Zeit, lachen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit und Tanzen hat seine Zeit. (Prediger Salomo 3,1+4)

Ich aber will zu Gott rufen, und der Herr wird mir helfen. Abends und morgens und mittags will ich klagen und heulen, so wird er meine Stimme hören. (Psalm 55,17+18) 

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Markus, 15,34)

 

Liebe Gemeinde,

wir tun uns schwer mit dem Klagen. Und mit dem Klagegebet erst recht. Wir haben oft das Gefühl, das darf man nicht. Wir meinen, es wäre ein Zeichen von Undankbarkeit Gott gegenüber. Oder Ausdruck von Auflehnung gegen ihn. Es gehört sich einfach nicht. Ich habe kein Recht, mich vor Gott zu beklagen. Und ihn anklagen darf ich schon gar nicht!

Wirklich nicht?

Die Bibel, insbesondere das Alte Testament ist voller Klage. Auch voller Anklage Gott gegenüber. Menschen damals hatten offenbar keine Schwierigkeit, sich Gott gegenüber zu beklagen. Auch nicht, ihm ihre Anklagen entgegen zu schleudern. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

In der Geschichte der Christenheit in unserem Land hat sich über Jahrhunderte eine Einstellung ausgebildet, die sagt, es ist uns nicht gestattet, uns zu beklagen. Ich habe die Vermutung, dass es hier eine Mischung aus einer bestimmten demütigen Frömmigkeit und der preußischen Korrektheit gibt. 
Diese Frömmigkeit sagt: Demut ist ein entscheidendes Kennzeichen christlichen Lebens. Wir sollen immer den unteren Weg gehen. Mich nicht zu wichtig nehmen. Wer bin ich denn schon vor dem allmächtigen Gott? 
Die preußische Korrektheit sagt: Gefühle sind unwichtig. Sie gilt es zu überwinden und durch vernünftige Tugenden zu ersetzten. Teilweise wurde versucht, die eigenen Gefühle mit Stumpf und Stiel auszurotten und die Tugenden buchstäblich einzuprügeln.

Jedenfalls entwickelte sich in der evangelischen Christenheit eine weit verbreitete Einstellung, die zum Beispiel Merkverse wie diese hervorbrachte: "Jeden Tag ein Klagelied weniger und ein Loblied mehr" oder: "Frage nicht warum, frage wozu!" Bis heute begegnen mir vor allem bei älteren Gemeindegliedern Sätze wie: "Danke, ich kann nicht klagen!" (auf die Frage, wie es geht) oder: "Ich will mich nicht beklagen, anderen geht es noch viel schlechter!" Mich zu beklagen gilt als ungehörig, ich will und darf mich nicht in den Vordergrund stellen, die christliche Demut erfordert es, dass ich alles hinnehme und nicht klage. Wer bin ich denn, dass ich es wage, Gott in seiner Güte und Weitsicht zu widersprechen?! Wenn ich Schlimmes erlebe, dann entspricht dies wohl Gottes Willem, und das dieser Wirklichkeit wird, darum bitten wir doch immer wieder im Vater Unser: "Dein Wille geschehe!"

Das ist ja auch alles nicht falsch.

Doch was machen wir dann mit den zum Teil beklemmenden Klagegebeten, Klageliedern aus der Bibel? Alles längst vergangen und überholt, gilt für uns heute nicht mehr? Und was machen wir vor allem mit dem, was uns eigentlich am liebsten klagen lassen würde, Schmerz, Trauer, Zorn, Ungerechtigkeit?

Vielleicht führen die Zerrbilder, die wir von der Klage im Kopf haben, mit dazu, dass das Klagen unter uns verpönt ist. 
Natürlich gibt es den Jammerlappen, der wegen jeder Kleinigkeit Zeter und Mordio schreit. 
Natürlich gibt es den Mürrisch-frustrierten, der an nichts ein gutes Haar lässt und über alles und jedes klagt. 
Natürlich gibt es den jugendlichen Idealisten, der nichts neben sich gelten lässt und mit allem unzufrieden ist, was nicht haargenau seinen Idealvorstellungen entspricht. 
Ob wir uns nun über solche Menschen ärgern oder sie belächeln, sie tragen dazu bei, dass die Klage einen schlechten Klang hat, aber noch einmal, die Bibel ist voll davon. Und es gibt genügend beklagenswertes. Morgen werden wir ein Kind beerdigen, das nur acht Jahre alt wurde. Soll ich den Eltern mit Demut und preußischer Korrektheit kommen?! Wir spüren, das geht nicht!

Schauen wir in die Bibel. Wie wird dort geklagt? Und was können wir dort lernen?

Der Prediger Salomo gibt den ersten wichtigen Hinweis. In seiner berühmten Auflistung stellt er weinen und lachen, klagen und tanzen, lieben und hassen lapidar und hart zugleich nebeneinander und sagt: Alles hat seine Zeit. Punkt. Lachen, Glücklich sein, dankbar sein, genauso wie traurig sein, weinen und klagen. Da gibt’s nichts dran zu deuteln. Und ein Blick in andere Kulturen und Religionen zeigt uns auch, dass diese menschlichen Grundbedürfnisse anderswo in vielfältiger Weise ausgedrückt werden. Es gibt Trauerriten und Klageweiber, es gibt fest Zeiten der Klage genauso wie eine ganze Klagemauer in Jerusalem.

Den zweiten Hinweis liefert uns Jesus. Selbst er, von dem wir sagen, kein Mensch vor und nach ihm stand Gott jemals so nah wie er, selbst er, stimmt kurz seinem Tod in die Klage aus dem 22. Psalm ein: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?! Nehmen wir Jesus als Vorbild für unser christliches Leben, kann die Klage nicht verboten sein. Es ist kein Zeichen von Schwäche oder mangelndem Glauben, wenn ich klage, auch in meinem Schmerz Gott meine Anklage entgegen schleudere. Ich bin dann ich guter Gesellschaft. Jesus tat es auch.

Und den dritten Hinweis finde ich im 55. Psalm. Dort wird der Klage Gott gegenüber eine Verheißung zugesprochen: wenn ich klage und heule, wird Gott mich hören!

Als Klagen ist nicht nur erlaubt, es ist sogar geboten, es liegt eine Verheißung auf der Klage. Gott hört sie, ja, er er-hört sie. Fragen wir uns dann, wann es Zeit zu klagen ist.

In gewisser Weise ist die Klage der Gegensatz zum Dank. Da sagte ich: wir fühlen uns dankbar in Situationen, in welchen wir uns beschenkt fühlen und in Momenten, in welchen uns geholfen wird. 
Dann wäre die Situationen der Klage die Stunden unseres Leben, in welchem wir uns von Gott und den Menschen verlassen vorkommen, wo uns jede Hilfe und jeder Beistand abhanden gekommen zu sein scheint, wo uns der Boden unter den Füßen wegbricht, wo mir die Kehle zugeschnürt ist ob des Grauens, welches über mich hereinbricht. Manchmal bricht sich dies in dem furchtbaren Schrei "O Gott!" Bahn. Manchmal in Gefühlen oder Worten der Klage, der Anklage, ja des Hasses Gott gegenüber.

Sollten wir uns dafür schuldig fühlen? 
Nein.
Dürfen wir so empfinden? 
Ja. 
Gottes Herz ist groß genug. 

Wenn wir glauben und darauf vertrauen, dass er die ganze Welt und auch mich in Händen hält, also auch das furchtbare, Grauenhafte, entsetzlich Schwere, dann ist seine Liebe auch groß genug, mein Leid mit zu tragen, mit zu empfinden. Er hat diese Welt mit ihren wunderbaren und schrecklichen Dingen ins Leben gerufen. Warum auch immer, das ist seine Sache, und wir brauchen nicht alles zu verstehen, müssen uns dann aber auch nicht mit allem einverstanden erklären.  Aber dieser Gott ist kein gefühlloser Gott. Er empfindet mit, auch wenn er sich an die Regeln seiner Schöpfung gebunden hat. Wunderbar formuliert in einem jüdischen Wort: "Die biblische Geschichte erzählt vom Durchzug Israels durch das Rote Meer. Die Engel jubilieren, so sagt ein Midrasch, aber Gott weint über die toten Ägypter." (Martin Stöhr, Ein Christ über Israel, in: Junge Kirche 1984, S. 396) Das darf ich auch für mich hören!

Die Bibel kann uns lehren zu klagen. Die Psalmen sind teils in einer Sprache formuliert, die für uns Heutige durchaus nach- und mitsprechbar sind. Wenn wir keine Worte finden. Aber es gibt auch moderne Klagegebete. Eins möchte ich zum Schluss lesen. Es stammt von Carola Moosbach ("In Ewigkeit", Gottflamme Du Schöne. Lob und Klagegebete, S. 41 - da das Gebet bisher nicht im Internet veröffentlicht wurde, kann ich es hier natürlich nicht abdrucken).

Amen.